Psychische Erkrankungen

Essstörungen

Binge Eating

Binge Eating (Fresssucht, Fressanfälle): Regelmäßige Fressanfälle (binge = Fressgelage), bei denen Nahrungsmengen verschlungen werden, die deutlich größer sind als das, was andere Menschen unter gleichen Umständen in der gleichen Zeit essen würden. Bis zu 2 % der Bevölkerung sind betroffen, bei Übergewichtigen (BMI über 30) sogar 5 %. Etwa ein Drittel der Erkrankten sind Männer.

Leitbeschwerden

  • Häufige – bis zu mehrmals wöchentlich auftretende – Essattacken. Bevorzugt werden sehr fett- und zuckerreiche Speisen. Der Essanfall kann sich über mehrere Stunden hinziehen. Das Essen wird dabei nicht genossen, sondern als unkontrolliertes Hereinstopfen erlebt.
  • Nach der Essattacke fühlen sich die Betroffenen schlecht, leiden unter Ekel- und Schuldgefühlen und der Überbelastung des Stoffwechsels.
  • Zeitweilig versuchen die Betroffenen, ihre Nahrungsaufnahme extrem einzuschränken (Crashdiät, Nulldiät), was sie aber unweigerlich in neue Essattacken hineintreibt.
  • Anders als bei Bulimie unternehmen die Betroffenen wenig, um die Folgen des Überessens zu kompensieren: Sie treiben kaum Sport und erbrechen nicht. Oft sind sie deshalb stark übergewichtig.

Wann zum Arzt

Noch am selben Tag, wenn

  • Der Betroffene in letzter Zeit deutlich abgenommen hat und extrem untergewichtig geworden ist
  • Gravierende Folgeprobleme auftreten wie starkes Frieren, Infekte, Verstopfung, Apathie (Teilnahmslosigkeit) oder Kreislaufstörungen.

In den nächsten Tagen, wenn sich das Essverhalten auffällig verändert hat oder sich andere Leitbeschwerden bemerkbar machen.

Die Erkrankung

Die Ursachen für das Binge Eating sind mit denen der Magersucht und der Bulimie vergleichbar. Man geht davon aus, dass die verschiedenen Essstörungen nur unterschiedliche Seiten ähnlicher psychischer, familiärer oder gesellschaftlicher Vorgeschichten sind. Sie alle stellen verzweifelte Lösungsversuche von persönlichen, inneren Konflikten dar.

„Normale“ Übergewichtige nehmen regelmäßig mehr Kalorien auf, als sie verbrauchen. Menschen, die unter Binge Eating leiden, erleben dagegen anfallsweise auftretende Essattacken. In den Phasen zwischen den Anfällen verzehren sie aber mehr oder weniger normale Nahrungsmengen. Nach den Essanfällen schämen sich die Erkrankten über ihren Kontrollverlust, das Selbstwertgefühl leidet. Als Folge der Essanfälle kommt es zu starkem Übergewicht mit allen psychischen und körperlichen gesundheitlichen Konsequenzen.

Das macht der Arzt oder Therapeut

Therapieziel ist die Stärkung des Selbstwertgefühls der Betroffenen und eine einfühlsame Hilfestellung bei der Lösung ihrer Konflikte. In der Therapie sollen die Patienten außerdem ein gesundes Essverhalten erlernen.

Teil der Krankheit ist, dass die Betroffenen in den seltensten Fällen selbst ärztliche Hilfe suchen. Meist sind es die Eltern oder andere nahe stehenden Personen, die auf einen Arztbesuch drängen. Wichtig ist, zu einem dem Betroffenen vertrauten Arzt zu gehen. Auch Kinderärzte sind übrigens geeignete Ansprechpartner. Die Diagnose ist meist einfach durch den eindeutigen Befund der körperlichen Untersuchung, zur Sicherheit werden aber andere Ursachen für die Abmagerung wie ein Tumor oder eine akute psychiatrische Erkrankung ausgeschlossen. Nach der Diagnose wird der Betroffene in der Regel in ein Krankenhaus bzw. eine Spezialklinik überwiesen – auch um Erkrankte vorübergehend aus ihrer bisherigen Umgebung herauszunehmen.
Im Anfangsstadium der Therapie werden oft Neuroleptika wegen ihrer erregungsdämpfenden und antipsychotischen Wirkung gegeben.

Psychotherapie. Um das Essverhalten zu normalisieren, die Körperschemastörung zu beheben oder (familiäre) Konflikte zu klären, beginnt man mit einer Psychotherapie. Bewährt haben sich Spezialkliniken, die unterschiedliche Methoden anbieten und kombinieren. So kann Verhaltenstherapie in Kombination mit Sport und/oder anderen körperorientierten Therapien, einer Kunsttherapie sowie einer Familientherapie helfen, die Erkrankung zu überwinden. Entspannungstechniken und Selbstsicherheitstrainings haben sich ebenfalls bewährt. Die Behandlung ist schwierig und langwierig, da bei praktisch allen Betroffenen die Krankheitseinsicht fehlt. In der Regel sind eine stationäre und eine sich daran anschließende ambulante Psychotherapie von mindestens einem Jahr notwendig.
Wichtig sind dabei klare Regeln: Ärzte, Therapeuten und Patient schließen einen Therapievertrag über stufenweise zu erreichende Gewichtsziele, Verhaltensmaßnahmen und Konsequenzen bei Nichteinhaltung ab.

Für die ambulante Weiterbehandlung gibt es z. B. therapeutische Wohngemeinschaften, die von einem Psychologen oder Sozialpädagogen betreut werden. Sie schließen die Lücke zwischen Klinikaufenthalt (intensive Therapie, aber keine Möglichkeit, Arbeit oder Ausbildung während dieser Zeit fortzusetzen) und ambulanter Therapie (wenige Therapiestunden pro Woche, keine Unterbrechung des Alltagslebens).

Selbsthilfe

Bei starken Belastungen, Stress oder Enttäuschungen drohen Rückfälle. Als Vorsorge hilft es manchmal schon, sich dem Risiko in den entsprechenden Situationen bewusst zu sein und zu versuchen, sie gar nicht erst entstehen zu lassen.

Nach den Mahlzeiten sollte noch eine halbe Stunde eingeplant werden, in der genügend Zeit für Entspannung ist. Diese Ruhephase wirkt auch dem manchmal immer noch vorhandenen Brechimpuls entgegen. 

Weiterführende Informationen

  • R. Göckel: Endlich frei vom Esszwang. 12 Beispiele, wie man die Esssucht überwinden kann. Kreuz, 2002. Fundiertes, seriöses, ermutigendes Buch.
  • S. Orbach: Antidiätbuch. Teil 1: Über die Psychologie der Dickleibigkeit, die Ursachen von Esssucht. Teil 2: Eine praktische Anleitung zur Überwindung von Esssucht. Frauenoffensive, 2001. Die Bücher der englischen Psychoanalytikerin gelten als Klassiker zum Thema, geschrieben aus einer feministischen Perspektive.

Autor / Rechte
27.02.2020
Dr. med. Arne Schäffler, Gisela Finke in: Gesundheit heute, herausgegeben von Dr. med. Arne Schäffler. Trias, Stuttgart, 3. Auflage (2014). Überarbeitung und Aktualisierung: Dr. med. Sonja Kempinski

Bulimie

Bulimie (Bulimia nervosa, Ess-Brech-Sucht): Psychisch bedingte Essstörung, die durch heimliche „Fressattacken“ im Wechsel mit Erbrechen oder Fasten gekennzeichnet ist. Kann sowohl als eigenständige Erkrankung als auch in Kombination mit Magersucht auftreten. Häufig kommt es durch den Nähr- und Mineralstoffmangel zu gesundheitlichen Folgeschäden (z. B. vorzeitige Entwicklung einer Osteoporose). Die Bulimie setzt durchschnittlich etwas später ein als die Magersucht, häufig um das 18. Lebensjahr.

In Deutschland leiden etwa 3 % der Mädchen und jungen Frauen bis 30 Jahren an Bulimie. Zunehmend sind auch Jungen und junge Männer betroffen.

Leitbeschwerden

  • Die Betroffenen haben typischerweise Heißhungeranfälle, während derer sie Unmengen hochkalorischer Nahrungsmittel innerhalb weniger Stunden förmlich in sich hineinschlingen.
  • Um eine Gewichtszunahme zu verhindern, erbrechen sie unmittelbar danach, nehmen Abführmittel oder halten eine strenge Diät ein.
  • Permanente Beschäftigung mit dem Essen, dem Körpergewicht, Furcht vor einer Gewichtszunahme, Fehlwahrnehmung des eigentlich schlanken Körpers als zu „fett“.
  • Folge des Erbrechens können Störungen im Elektrolythaushalt, Entzündungen der Speiseröhre und Zahnschäden sein.
  • Der Mangel an Vitaminen und Spurenelementen macht anfällig für Infekte.
  • Im Gegensatz zu Magersüchtigen streben Frauen mit einer Bulimie aber eine „ideal-weibliche“ Figur an.

Wann zum Arzt

Noch am selben Tag, wenn

  • Der Betroffene in letzter Zeit deutlich abgenommen hat und extrem untergewichtig geworden ist
  • Gravierende Folgeprobleme auftreten wie starkes Frieren, Infekte, Verstopfung, Apathie (Teilnahmslosigkeit) oder Kreislaufstörungen.

In den nächsten Tagen, wenn sich das Essverhalten auffällig verändert hat oder sich andere Leitbeschwerden bemerkbar machen. 

Die Betroffenen schämen sich für die Symptomatik und halten sie lange geheim. Sie sind erst zu einer Behandlung zu motivieren, wenn der Teufelskreis von Essen und Erbrechen ihren Alltag bestimmt und sie erkennen, dass ihr Essverhalten krankhaft ist.

Die Erkrankung

Die Ursachen der Bulimie sind mit denen der Magersucht vergleichbar. Häufig leiden die Betroffenen in ihrem Leben abwechselnd an Phasen der Bulimie und Phasen der Magersucht oder beide Erkrankungsformen treten gleichzeitig auf.

Auslöser der Erkrankung ist – ähnlich wie bei der Magersucht – der übermächtige Wunsch, sehr schlank zu sein. Diäten werden jedoch nicht durchgehalten, führen zu Heißhungerattacken und extremen Versagensgefühlen. Die Betroffenen versuchen, das Essen unverdaut loszuwerden und „trainieren“ das Erbrechen. Müssen sie zu Anfang noch den Finger in den Hals stecken, kann auf Dauer der Brechreflex allein durch willentliche Anstrengung erzeugt werden.

Im Unterschied zu Magersüchtigen sind die meisten Bulimiker normalgewichtig, nur etwa 20 % sind leicht unter- oder übergewichtig. Bulimie bleibt der Umwelt oft lange verborgen, weil die Patienten in Schule oder Beruf häufig sehr leistungsorientiert sind und gut „funktionieren“. Angehörige und Freunde sollten deshalb stutzig werden, wenn jemand während der Mahlzeiten häufig den Raum verlässt (zur Toilette geht), zu den Mahlzeiten sehr viel trinkt oder erkennbar sehr viel isst, ohne zuzunehmen. Denn Dauerdiät, Abführmittelmissbrauch und das Erbrechen können zu körperlichen Beschwerden wie Magen-Darm-Erkrankungen, Speiseröhren- und Zahnfleischentzündungen sowie Kreislaufstörungen führen. Durch den hohen Mineralstoffverlust – insbesondere dem Kaliumverlust – kann es zu Krampfanfällen kommen.

Das macht der Arzt

Teil der Krankheit ist, dass die Betroffenen in den seltensten Fällen selbst ärztliche Hilfe suchen. Meist sind es die Eltern oder andere nahe stehenden Personen, die auf einen Arztbesuch drängen. Wichtig ist, zu einem dem Betroffenen vertrauten Arzt zu gehen. Auch Kinderärzte sind übrigens geeignete Ansprechpartner. Die Diagnose ist meist einfach durch den eindeutigen Befund der körperlichen Untersuchung, zur Sicherheit werden aber andere Ursachen für die Abmagerung wie ein Tumor oder eine akute psychiatrische Erkrankung ausgeschlossen. Nach der Diagnose wird der Betroffene in der Regel in ein Krankenhaus bzw. eine Spezialklinik überwiesen – auch um Erkrankte vorübergehend aus ihrer bisherigen Umgebung herauszunehmen.
Im Anfangsstadium der Therapie werden oft Neuroleptika wegen ihrer erregungsdämpfenden und antipsychotischen Wirkung gegeben.

Psychotherapie. Um das Essverhalten zu normalisieren, die Körperschemastörung zu beheben oder (familiäre) Konflikte zu klären, beginnt man mit einer Psychotherapie. Bewährt haben sich Spezialkliniken, die unterschiedliche Methoden anbieten und kombinieren. So kann Verhaltenstherapie in Kombination mit Sport und/oder anderen körperorientierten Therapien, einer Kunsttherapie sowie einer Familientherapie helfen, die Bulimie zu überwinden. Entspannungstechniken und Selbstsicherheitstrainings haben sich ebenfalls bewährt. Die Behandlung ist schwierig und langwierig, da bei praktisch allen Betroffenen die Krankheitseinsicht fehlt. In der Regel sind eine stationäre und eine sich daran anschließende ambulante Psychotherapie von mindestens einem Jahr notwendig.
Wichtig sind dabei klare Regeln: Ärzte, Therapeuten und Patient schließen einen Therapievertrag über stufenweise zu erreichende Gewichtsziele, Verhaltensmaßnahmen und Konsequenzen bei Nichteinhaltung ab.

Für die ambulante Weiterbehandlung gibt es z. B. therapeutische Wohngemeinschaften, die von einem Psychologen oder Sozialpädagogen betreut werden. Sie schließen die Lücke zwischen Klinikaufenthalt (intensive Therapie, aber keine Möglichkeit, Arbeit oder Ausbildung während dieser Zeit fortzusetzen) und ambulanter Therapie (wenige Therapiestunden pro Woche, keine Unterbrechung des Alltagslebens). 

Prognose

Die „reine“ Bulimie ist psychotherapeutisch gut behandelbar – nicht zuletzt auch deshalb, weil die Patienten erkennen, dass sie auf Dauer ihrem Körper schwer schaden. In leichteren Fällen wächst sich die Symptomatik oftmals mit dem Erwachsenwerden aus. Es besteht aber auch die Gefahr, dass sich die Bulimie zu einer Magersucht oder zum Binge Eating fortentwickelt.

Bei der Hälfte der Betroffenen wird sich das Essverhalten allerdings nie mehr völlig normalisieren. Ein gesundes, verlässliches Gefühl von „Sattsein“ und „Hunger“ stellt sich bei diesen Betroffenen nicht mehr ein. Sie müssen ihr Essverhalten zeitlebens ganz bewusst steuern.

Selbsthilfe

Bei starken Belastungen, Stress oder Enttäuschungen drohen Rückfälle. Als Vorsorge hilft es manchmal schon, sich dem Risiko in den entsprechenden Situationen bewusst zu sein und zu versuchen, sie gar nicht erst entstehen zu lassen.

Nach den Mahlzeiten sollte noch eine halbe Stunde eingeplant werden, in der genügend Zeit für Entspannung ist. Diese Ruhephase wirkt auch dem manchmal immer noch vorhandenen Brechimpuls entgegen.

Weiterführende Informationen

  • www.bulimie.de – Internetseite der Deutschen Forschungsinitiative Essstörungen e. V. (DFE, Leipzig): Bietet Online-Beratung und nützliche Tipps zur Selbsthilfe bei Essstörungen. Ausführlich und sehr informativ.
  • M. Langsdorff: Die heimliche Sucht, unheimlich zu essen. Bulimie verstehen und heilen. Fischer Taschenbuch, 2002. Flott geschriebenes Buch, setzt sich kritisch und ausführlich mit dem Thema auseinander.
  • U. Schmidt; J. Treasure: Die Bulimie besiegen. Ein Selbsthilfeprogramm. Beltz, 2001. Ratgeber für Betroffene, die den Teufelskreis aus Ess- und Brechzwang durchbrechen wollen. Mit konkreter Anleitung zur Selbsthilfe in Form eines Arbeits- und Übungsbuchs. Auch wegbegeleitend zur therapeutischen Unterstützung hilfreich.

Autor / Rechte
17.10.2019
Dr. med. Arne Schäffler, gisela Finke in: Gesundheit heute, herausgegeben von Dr. med. Arne Schäffler. Trias, Stuttgart, 3. Auflage (2014). Überarbeitung und Aktualisierung: Dr. med. Sonja Kempinski

Magersucht

Magersucht (Anorexia nervosa, Anorexie): Häufigste Form der Essstörung mit willentlich herbeigeführtem Gewichtsverlust — von mindestens 15 % des Ausgangsgewicht bzw. bei einem Body-Mass-Index von 17,5 und darunter — durch extreme Reduktion der Nahrungszufuhr. Magersucht hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Etwa 1 % der Mädchen und Frauen zwischen dem 10. und 25. Lebensjahr sind betroffen, aber auch – mit steigender Tendenz – junge Männer, Kinder vor der Pubertät und Frauen bis zu den Wechseljahren. Die Magersucht ist eine sehr ernst zu nehmende Erkrankung und die Sterberate hoch, vor allem, wenn nicht rasch therapeutische Hilfe in Anspruch genommen wird oder die Therapie beim Betroffenen nicht anschlägt.

Leitbeschwerden

  • Die Gewichtsabnahme wird durch zwanghaftes Fasten ausgelöst, oft unterstützt von provoziertem Erbrechen oder der Einnahme von Abführmitteln.
  • Die Gewichtsabnahme wird durch weite Kleidung verborgen. Die Betroffenen vermeiden es, sich in Unterwäsche, Badebekleidung oder nackt zu zeigen.
  • Subjektiv geglaubte und häufig geäußerte Befürchtung, zu dick zu sein – dennoch starke Beschäftigung mit dem Thema Essen. Typisch ist, dass die Kranken gerne für andere kochen, aber dann selbst nichts essen.
  • Gesteigerte körperliche Aktivität, um zusätzlich Kalorien zu verbrennen.
  • Ausbleiben der Menstruation bereits in frühen Krankheitsstadien, Rückbildung der Brüste (die Weiblichkeit wird „weggehungert“), Frieren bis hin zu Unterkühlung.
  • Herzrhythmusstörungen und niedriger Puls, Ödeme
  • Flaumbehaarung an Armen und Beinen
  • Verstopfung
  • Erhöhte Infektanfälligkeit
  • Niedriger Blutdruck.

Wann zum Arzt oder Psychotherapeuten

Noch am selben Tag, wenn der Betroffene in letzter Zeit deutlich abgenommen hat und extrem untergewichtig geworden ist oder gravierende Folgeprobleme auftreten wie starkes Frieren, Infekte, Verstopfung, Apathie (Teilnahmslosigkeit) oder Kreislaufstörungen.

In den nächsten Tagen, wenn sich das Essverhalten auffällig verändert hat oder sich andere Leitbeschwerden bemerkbar machen.

Die Erkrankung

Nach heutigem Verständnis gelten als Ursache der Magersucht die folgenden Faktoren:

Persönlichkeitsbedingte Faktoren. Magersüchtige werden von Psychologen als leistungsorientierte, perfektionistische Persönlichkeiten mit einem ausgeprägten Harmoniebedürfnis beschrieben. Gleichzeitig leiden sie unter einem schwachen Selbstwertgefühl, es fällt ihnen schwer, über ihre Gefühle zu sprechen. In der Pubertät kommt es zu einer Identitätsstörung, weil neue Aufgaben wie die Annahme der Weiblichkeit oder das Ablösen vom Elternhaus als fremd und überfordernd erlebt werden.

Familiäre Faktoren. In der Essstörung kann sich ein (unbewusster) Protest gegen Leistungserwartungen, strenge Vorschriften, Geschwisterrivalität oder eine übermäßige, ängstliche Kontrolle durch die Eltern äußern. Auffällig ist zudem, dass Mütter von essgestörten Töchtern häufig selbst Essprobleme haben. Darüber hinaus finden sich in den Familien oft Rollenumkehrungen: Die Tochter übernimmt frühzeitig Aufgaben, die eigentlich die Eltern wahrnehmen müssten (Parentifizierung). So wird ihr z. B. schon früh Verantwortung für jüngere Geschwister übertragen.

Soziokulturelle Faktoren. Das Schlankheitsideal unserer Gesellschaft fördert die krankhafte Fixierung auf Gewicht, Figur und Essen. Besonders gefährdet sind Mädchen und junge Frauen, in deren Lebensumfeld Schlanksein betont oder als Voraussetzung für Anerkennung definiert wird (z. B. Models, Tänzerinnen, Stewardessen). Ein besonders hoher Risikofaktor für die Entstehung einer Magersucht ist die ständige Unzufriedenheit der Eltern mit ihrem eigenen Gewicht. Wenn Eltern Reduktionsdiäten zelebrieren, abfällig über „Dicke“ sprechen oder sogar selbst an einer (latenten) Essstörung leiden, geben sie diese negative Einstellung gegenüber dem eigenen Körper an ihre Kinder weiter.

Verlauf. Häufig beginnt die Magersucht während der Pubertät mit einer Fastenkur. Aber selbst wenn das Wunschgewicht erreicht ist, hungern die Erkrankten weiter. Ihre Körperwahrnehmung ist gestört, sie fühlen sich weiterhin zu dick – auch wenn sie bereits hochgradig abgemagert sind. Andere empfinden die Gewichtsabnahme als Lösung früherer Probleme oder als „Sieg“ des Geists über den Körper.

Zumindest am Anfang der Erkrankung behalten die Patienten ihr natürliches Hungergefühl. Deshalb handelt es sich nicht um eine Appetitstörung. Dem Hunger nicht nachzugeben empfinden sie als euphorisierend.

Um das Körpergewicht immer weiter herabzusetzen, werden akribisch Kalorien gezählt, Mahlzeiten ausgelassen und Essensportionen auf ein Minimum reduziert. Eine Tomate oder ein Knäckebrot, das in kleinen Mengen über den Tag verteilt verzehrt wird, ist häufig alles, was sich eine magersüchtige junge Frau erlaubt. Zusätzlich sorgt sportliches Training für weiteren Kalorienverbrauch. Häufig nehmen Patienten Appetitzügler, Abführmittel oder harntreibende Medikamente, um den Gewichtsverlust voranzutreiben. Manchmal wird die Nahrungsverwertung auch noch durch selbst herbeigeführtes Erbrechen verhindert (Übergang der Magersucht zur Bulimie).

Viele Magersüchtige kapseln sich mit Fortschreiten der Krankheit immer mehr von ihrer Umwelt ab. Zugleich setzen sie alles daran, ihre Erkrankung zu verbergen, indem sie übergroße Kleidung tragen, es vermeiden, gemeinsam mit anderen zu essen oder ihren Appetitmangel bei gemeinsamen Mahlzeiten damit erklären, dass sie schon gegessen hätten.

Fester Bestandteil der Magersucht ist die Körperschemastörung, auch als Körperwahrnehmungsstörung, körperdysmorphe Störung, Körperbildstörung, Body dysmorphic disorder oder Syndrom der empfundenen Hässlichkeit bezeichnet. Magersüchtige nehmen die lebensbedrohliche Abmagerung ihres Körpers mit dem extremen Muskelschwund an Schenkeln und Armen nicht wahr. Im Gegenteil — einzelne Körperteile, wie Oberschenkel, Bauch oder Hüften werden selbst bei einem Gewicht von 40 kg noch als zu dick empfunden und ständig kritisch beäugt.

Das macht der Arzt oder Therapeut

Teil der Krankheit ist, dass die Betroffenen in den seltensten Fällen selbst ärztliche Hilfe suchen. Meist sind es die Eltern oder andere nahe stehenden Personen, die auf einen Arztbesuch drängen. Wichtig ist, zu einem dem Betroffenen vertrauten Arzt zu gehen. Auch Kinderärzte sind übrigens geeignete Ansprechpartner. Die Diagnose ist meist einfach durch den eindeutigen Befund der körperlichen Untersuchung, zur Sicherheit werden aber andere Ursachen für die Abmagerung wie ein Tumor oder eine akute psychiatrische Erkrankung ausgeschlossen. Nach der Diagnose „Magersucht“ wird der Betroffene in der Regel in ein Krankenhaus bzw. eine Spezialklinik überwiesen – auch um Erkrankte vorübergehend aus ihrer bisherigen Umgebung herauszunehmen.

Im Anfangsstadium der Therapie werden oft Neuroleptika wegen ihrer erregungsdämpfenden und antipsychotischen Wirkung gegeben.

Psychotherapie. Um das Essverhalten zu normalisieren, die Körperschemastörung zu beheben oder (familiäre) Konflikte zu klären, beginnt man mit einer Psychotherapie. Bewährt haben sich Spezialkliniken, die unterschiedliche Methoden anbieten und kombinieren. So kann Verhaltenstherapie in Kombination mit Sport und/oder anderen körperorientierten Therapien, einer Kunsttherapie sowie einer Familientherapie helfen, die Magersucht zu überwinden. Entspannungstechniken und Selbstsicherheitstrainings haben sich ebenfalls bewährt. Die Behandlung der Magersucht ist schwierig und langwierig, da bei praktisch allen Betroffenen die Krankheitseinsicht fehlt. In der Regel sind eine stationäre und eine sich daran anschließende ambulante Psychotherapie von mindestens einem Jahr notwendig.

Wichtig sind dabei klare Regeln: Ärzte, Therapeuten und Patient schließen einen Therapievertrag über stufenweise zu erreichende Gewichtsziele, Verhaltensmaßnahmen und Konsequenzen bei Nichteinhaltung ab.

Für die ambulante Weiterbehandlung gibt es z. B. therapeutische Wohngemeinschaften, die von einem Psychologen oder Sozialpädagogen betreut werden. Sie schließen die Lücke zwischen Klinikaufenthalt (intensive Therapie, aber keine Möglichkeit, Arbeit oder Ausbildung während dieser Zeit fortzusetzen) und ambulanter Therapie (wenige Therapiestunden pro Woche, keine Unterbrechung des Alltagslebens).

Prognose

Je kürzer die Krankheitsdauer und je weniger ausgeprägt die Begleiterkrankungen, desto besser sind die Heilungschancen. Etwa 25 % der Betroffenen überwinden ihre Magersucht nach einer rechtzeitig eingeleiteten (und konsequent durchgehaltenen) Therapie vollständig.

Aber: Bis zu 20 % der Erkrankten sterben an den Folgen der extremen Unterernährung. Zudem bleiben bei etwa der Hälfte der therapierten Magersüchtigen zwanghafte Verhaltensweisen oder latente Essstörungen erhalten, etwa ein Drittel entwickelt in späteren Jahren schwere psychiatrische Erkrankungen bis hin zu Gedanken an Selbstmordversuchen. Auch die Rückfallquote ist hoch: Wie alle Suchtkranke sind Magersüchtige vor allem in krisenhaften Situationen potenziell gefährdet.

Unterstützung durch Angehörige

Die Familie spielt eine entscheidende Rolle beim Therapieerfolg der Magersucht. Auf der anderen Seite ist sie aber oft auch der Boden, auf dem die Erkrankung überhaupt entstehen konnte. Was auch immer die Magersucht ausgelöst hat – fast immer stehen Eltern, Angehörige oder Partner fassungslos vor der Frage: „Was haben wir falsch gemacht?“

Wenn Eltern ihrem magersüchtigen Kind helfen wollen, müssen sie sich zunächst einmal selbst helfen lassen. Es ist zweitrangig, ob dies im Rahmen von Vorgesprächen für eine geplante Familientherapie, in einer Ehe- und Familienberatungsstelle oder bei einem psychotherapeutisch qualifizierten Arzt oder Psychologen geschieht. Entscheidend ist die offene Aussprache über die Erkrankung und die professionelle Begleitung während der ersten Behandlungsmonate des Kindes. Auch Selbsthilfegruppen leisten hier gute Unterstützung.

Fachtherapeuten raten zudem dazu, nicht zu sehr „auf der Symptomatik herumzureiten“, sondern vielmehr Anteil zu nehmen an den allgemeinen Lebensfragen, Interessen und Aufgaben, die die Jugendlichen beschäftigen. Der Erkrankte braucht Raum für Gefühle sowie die Möglichkeit, Freude an nicht auf Leistung bezogenen Aktivitäten, Begabungen und persönlichen Eigenarten zu spüren. Es gilt, das Selbstvertrauen des erkrankten Kindes zu stärken.

Weiterführende Informationen

  • www.hungrig-online.de – Website des von Ärzten gegründeten Vereins Hungrig-Online e. V., Buckenhof: Bietet Diskussionsforum sowie zahlreiche Informationen für Betroffene, Angehörige und Fachleute. Sehr empfehlenswert.
  • www.bundesfachverbandessstoerungen.de – Website des Bundesfachverbands Essstörungen e. V., München: Gutes Adressenangebot für ambulante und stationäre Einrichtungen. Bietet Betroffenen und Angehörigen die Möglichkeit, sich für professionelle Hilfe an Mitgliedseinrichtungen zu wenden.
  • www.cinderella-rat-bei-essstoerungen.de – Website des Aktionskreises Ess- und Magersucht Cinderella e. V., München: Initiative, die bei Essstörungen berät und bundesweit Adressen von lokalen Selbsthilfegruppen, Psychotherapeuten und Kliniken vermittelt.
  • www.magersucht.de – Ausführliche, sehr informative Website einer Selbsthilfegruppe des Vereins Selbsthilfe bei Essstörungen e. V., Frankfurt.
  • www.ANAD-pathways.de – Website des Vereins ANAD (Anorexia Nervosa and Associated Disorders) e. V. pathways, München: Beratungsstelle, speziell für Essgestörte. Sehr hilfreich, bietet direkten Kontakt zu Fachleuten. Für Betroffene und Angehörige sehr empfehlenswert.
  • M. Gerlinghoff et al.: Magersucht und Bulimie. Verstehen und bewältigen. Beltz, 2001. Einer der – inzwischen vielen – Ratgeber zum Thema, sachlich und seriös.
  • Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BZgA): Essstörungen. Guter Ratgeber für Eltern, Partner, Geschwister, Angehörige, Lehrer und Betreuer. Kostenlos zu beziehen bei der BzgA, 51101 Köln, Fax: (0221) 8992257 oder via Internet: www.bzga.deunter der Rubrik Infomaterialien/Bestellung.
  • M. Hornbacher: Alice im Hungerland. Leben mit Bulimie und Magersucht. Ullstein Taschenbuch, 2001. Von Betroffenen als authentisch und hilfreich beschriebene Autobiografie.

Autor / Rechte
07.11.2019
Dr. med. Arne Schäffler, Gisela Finke in: Gesundheit heute, herausgegeben von Dr. med. Arne Schäffler. Trias, Stuttgart, 3. Auflage (2014). Überarbeitung und Aktualisierung: Dr. med. Sonja Kempinski

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